Warum ich lese

Bild Ishtar-Tor © Deutsche Fotothek‎, Lizenz CC-By-SA 3.0 DE

Mit ungefähr vier Jahren sah ich es zum ersten Mal: das Tor.
In ihm stand ein kleiner Panda, der mich mit seinem neugierigen Blick dazu einlud, ihm in seine Welt zu folgen. Er erzählte mir, dass er Tao Tao heiße und zusammen mit seiner Mutter hier, in China, lebe. Ich kann mich daran erinnern, fasziniert und verwundert zugleich gewesen zu sein.

Warum konnte er mich verstehen? Und überhaupt, wie kam ich hierher?

Der junge, schwarz-weiße Gefährte konnte sich auf diese Fragen ebenfalls keinen Reim machen, verfiel jedoch nicht weiter in Grübelei und stellte mich stattdessen seinen Freunden – unter anderem dem Affen Kiki oder auch dem Eichhörnchen Puru – vor. So kam es, dass wir gemeinsam viele Abenteuer erlebten und ich, in jedem mit ihm zusammen verbrachten Moment, einen Teil der Welt besser zu verstehen begann. Ich erfuhr viel über für mich fremde Bräuche, entdeckte die unterschiedlichen Facetten von Freundschaft und lernte durch Metaphern meinen Horizont zu erweitern.
Es war der Anfang von etwas Neuem, aber darüber hinaus war es auch eines der ältesten Erlebnisse der Menschheitsgeschichte, welches mich fortan begleiten würde.

Denn ohne dass ich es bemerkte, wuchsen und erschlossen sich mir immer mehr dieser Tore. Sie veränderten zwar ihre Form und Gestalt, aber das Prinzip ihres Wesens war stets das Gleiche. Zahlreiche von ihnen wurden mit Licht angestrahlt, doch oft geschah es auch, dass ich nur einen interessant gemusterten Stein betrachtete oder eine flüchtige, leise Melodie vernahm, bevor sich Ersterer plötzlich als ein geradezu fraktales oder durch Eleganz imponierendes Tor entpuppte und die sanften Töne sich zu einem Crescendo erhoben, welches einen bereits auf den Weg zu einem Portal brachte, so dass man erst nach dem Durchschreiten desselben merkte, welche Schwelle man soeben hinter sich gelassen hatte.
Einige blieben dauerhaft bestehen und öffnen noch heute ihre Pforten für mich. In manchen konnte ich mich selbst finden. Eine Reihe ließ einen Teile der Welt erkunden, die man auf anderem Wege nur schwerlich erreicht hätte. Wiederum andere verblassten und glichen mehr einer Momentaufnahme der Zeit. Einer Zeit, in welcher ich mich oder in der sich der Zeitstrahl des Tores befand.
Sie alle folgten einem permanenten Wandel.

Den Schlüssel zu dem allerersten Tor, das in dem ich Tao Tao traf, schenkte mir meine Großmutter, indem sie mir durch ihr Vorlesen die Welt der Literatur erschloss. Einmal in den Bann der Buchstaben gezogen, hörte ich alsbald Geräusche von einer Bergspitze herab: Feuerprasseln, Schattenspiele, ein krächzender Rabe – beim Blick durch das Tor sah ich dort eine junge, nur 120 Jahre alte, Frau auf einem Besen umherwirbeln. Bald raschelte es, aus einem weiteren Portal flatterten Rüdiger und seine Freunde herbei. Sie luden mich zu Speis und Trank ein. Es lockten weitere Wagnisse, die mich in der Verkleidung einer Gänsehaut begrüßten, doch der Lockruf war nicht stark genug, als dass ich mich nicht nach neuen Wegen und Toren umschaute. Hier war nichts zu sehen, dafür aber zu hören: Musik wie von Windspielen, ätherisch, fremdartig, anziehend. Ich folgte den Klängen und fand mich auf einmal in einer Welt wieder, die ganz anders gebaut war, als ich es bisher kannte. Die Buchstaben drehten mir allesamt die Rückseite zu! Fasziniert drehte ich mich mit und fand so spannende Erzählungen von Dieben und Engeln, von Kämpfern und Göttern, von Sportlern und Amateuren, von Detektiven und Kindern, kurzum von Menschlichkeit aus dem Reich der Mangas.
Die literarische Spannung aber blieb universell, sowohl im fernöstlichen Japan wie in westlichen, meist britischen Gefilden, so dass ich letztendlich einen großen Erlebnisschatz auftun konnte.

Der Fantasie und dem Geist waren keine Grenzen gesetzt.

Doch jedes Tor, jede Geschichte, birgt ebenso ein Bild desjenigen, der sie festgehalten, niedergeschrieben und geöffnet hat, und seiner Erfahrungen.

Allgemein mutmaße ich, dass das wohl breiteste Tor für Jugendliche und junge Erwachsene von einer mittlerweile weit bekannten Britin kreiert wurde. Steht man vor Selbigem, werden einem Worte angeboten, die gleich einem Vitamin für jeden Geist wirken – ein Hauch von Magie. Tritt man nun in das von Joanne Rowling erschaffene Harry-Potter-Universum ein, begeistern vordergründig bereits die Geschichten der Figuren, dahinter liegt jedoch eine unermessliche Vielfalt an Schichten. Mehr als in einer Biskuittorte oder einem Blätterteig je zu finden sind. Jede einzelne dieser Schichten sieht wie maßgeschneidert aus für den, der den Weg in dieses Reich beschritten hat! Denn der wahre und unvergängliche Zauber hinter dieser Pforte liegt in dem Talent der Autorin, mit dem sie Projektionsflächen für die Träume, Sehnsüchte, Wünsche und Ideale nahezu eines jeden Lesers schuf. Identifikationsanker, die eine ganze Lesegeneration geprägt, verändert und letztendlich sogar neu erweckt haben.

Aber Literatur und das Lesen an sich bieten noch viele weitere unverzichtbare Ausprägungen ihrer selbst. In der gesamten Geschichtsschreibung, die mit der Erfindung der Schrift anfängt, sind schließlich Zeugnisse vorhanden, dass Lesende die Gesellschaft, in der sie leb(t)en, voranbrachten. Ohne Lesen hat es jede Kommunikation schwer, kann Bildung kaum vermittelt und nur mühsam konserviert werden – sie stürbe mit jedem Wissensträger und wäre nur einem kleinen Kreis von „Wissensoligarchen“ vorbehalten. Auch die andere Seite des Spektrums, die der Politik, Diplomatie und kriegerischen Gewalt, dominiert die Macht des Lesens.
Kluge Menschen konnten mit dem Einfluss des geschriebenen Wortes Kriege verhindern, aber auch das Gegenteil ist wahr: unkontrolliert entfesselte Wortmacht lässt Gewalt folgen. Die hier gegebenen Facetten der Schrift, beziehungsweise Tore, sind immer ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft.
Nichtsdestotrotz werde ich immer das Gefühl teilen, dass Lesen, oder mehr: Lesende, schlussendlich Glück bedeuten. Denn manches Buch, sei es eine „triviale Kriminalgeschichte“, eine klassische Lektüre oder ein intelligenter Gesellschaftsroman, stellt doch stets ein helles, einladendes Tor zu etwas Positivem dar.

Deshalb blicke ich heute mit einem wissenden Lächeln auf all diese Momente und Erkenntnisse zurück. Schließlich durfte ich bereits etliche Tore durchschreiten und die Freude an unzähligen Entdeckungen erleben. Vielleicht weil Fernweh und Neugier schon immer meine stärksten Antriebsmotoren waren.
Auch nehme ich möglicherweise nicht mehr jedes Tor mit, selbst wenn ich mich manchmal doch ganz unbewusst dem Sog eines solchen Bauwerks nicht entziehen kann. Eventuell wird man mit der Zeit auch wählerischer oder weiser, aber man sollte immer darauf bedacht sein, dass einem niemals der Mut sowie die Freude am Erforschen ebendieses abhanden kommt und jeder überall und ausnahmslos die Möglichkeit erhält, einen Generalschlüssel in die Welt der Buchstaben zu erlangen.

Warum ich also lese? – Ich lese, weil ich zu den Menschen gehöre, die die Überzeugung nicht aufgeben werden, dass die Feder immer stärker als das Schwert sein wird.

Zur Beteiligung an #warumichlese von Novelero – Blog für Literatur

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Ein Gedanke zu “Warum ich lese

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