Der Sonderling (Ruth Rendell)

Autor: Ruth Rendell
Titel: Der Sonderling
Verlag: Blanvalet
Erscheinungsdatum: Erstmals 1999 (Hardcover)
Seitenzahl: 445
Originaltitel: A sight for sore eyes
ISBN-10: 3764500506
ISBN-13: 978-3764500504

Rezension:

„Der Sonderling“ ist ein Roman aus der Feder der Britin Ruth Rendell, welcher der Spannungsliteratur zuzurechnen ist und Großraum von London spielt.
Im Buch verfolgt der Leser die fiktiven Lebensgeschichten verschiedener Personen beziehungsweise sich stets abwechselnden Abschnitten daraus, deren Erzählungen zunächst ohne Berührungspunkte nebeneinander her laufen, mit einem Beginn in der Mitte der 1960er Jahre und einem Hauptverlauf in der Jetztzeit.

Die als erstes vorgestellten Charaktere Harriet Oxenholme und Marc Syre, ein junger Musiker und seine Lebensgefährtin, sitzen Modell für den Maler Simon Alpheton. Sein Werk „Marc und Harriet in Orcadia Place“ wird später ein berühmtes Kunstwerk moderner Malerei.
Zwei weitere Personen, Jimmy Brex, sowie Eileen Tawton, werden ungefähr zu derselben Zeit im Sommer 1966 auf einem Ausflug vorgestellt, auf dem Eileen auf der Damentoilette einen Brillantring findet – und ihn behält.
Dieser Ring kann geradezu sinnbildlich für das gesamte Buch stehen, da dessen Inhalt zu guter Letzt sich ebenfalls zu einem Solchem schließen wird, doch zunächst erfährt der Leser, dass ihn das Paar aus einer Eingebung heraus als Verlobungsring benutzt. So begleitet man die Beiden nicht nur durch ihre fünfjährige Verlobungszeit, die mit banalem Nichts das Lebens von Mitgliedern der Arbeiterschicht ziemlich zutreffend umschrieben und wiedergegeben wird, sondern auch weiterhin nach ihrer Heirat.

Nur wenige Absätze später findet man einen der mehrfachen Gesellschaftskritikpunkte innerhalb des Werkes, welches sich aus mangelndem Interesse und begrenzter Intelligenz resultierender Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben richtet – die zweiundvierzigjährige Eileen Brex bekam kettenrauchend und mit geplatzter Fruchtblase ihren Sohn, den sie später zwischen Tür und Angel ausgesucht Teddy nannte. Gleichzeitig ist diese Geburt eine Keimzelle für den weiteren Geschichtsverlauf, da Teddy Brex eine der beiden Hauptfiguren sein wird.

Die zweite Protagonistin, Francine Hill, wird mit dem Anlass des Mordes an ihrer Mutter in die Geschichte eingeführt. Dieses Traumata, dass durch die Kinderpsychotherapeutin Julia Gregson ausgenutzt und nur vertieft wird, indem sie den Vater von Francine, Richard, heiratet und auch anderweitig aufgrund ihrer Position viel intervenieren wird, liefert im Verlauf des Romans wichtige Antriebskraft zur Fortführung der Geschichte. Denn sie zerstört durch ihr krankhaftes Verhalten nicht nur einen Teil des Existenz ihrer Patienten oder der von Francine, sondern schadet ebenso sich selbst.

Zurück zu Teddy erfährt man auf seinem weiteren Weg den ‘Verlust’ der Mutter nach einer fehlgeschlagenen Eigentherapie von Diabetes, was jedoch den übrigen Männern im Brex’schen Haushalt zu keiner Änderung der Lebensgewohnheiten motivierte. Nur Teddy entdeckt in einer Krimskramsdose den Brillantring, den seine Mutter vor Jahren behalten hatte und ist fasziniert ob seiner Schönheit. Auch sein Vater Jimmy Brex verabschiedet sich kurz darauf mit einem tödlichen Herzinfarkt vom Diesseits.

Teddy, der Kunst – ein Fach, bei dem ihm sein „angeborenes Stilgefühl“ zu Gute kommt – auf dem College studiert, hält sich zum einen aus zwischenmenschlichen Beziehungen vollkommen raus, womit er schon einmal ‘sonderbar’ wirkt, zum anderen legt er auch bald seine menschliche Kälte an den Tag. Als seine gewohnten Lebensumstände nämlich durch seinen Handwerker-Onkel Keith bedroht werden, erstickt Teddy eines nachts den Alkoholiker mit einer Plastiktüte und versteckt die Leiche schließlich im Kofferraum eines Ford Edsel, den sein Onkel als Hobby betrieb. Abgesehen von einem Ekel vor unkontrollierbaren und unbekannten biologischen Vorgängen lässt Teddy diese Tat jedoch absolut unberührt.
Viel mehr beschäftigen ihn praktische Probleme der Lebensführung, da er keinen Antrieb hat, staatlich finanzielle Unterstützung zu beantragen. Stattdessen finanziert er sein einfaches Leben über Auftragsarbeiten im handwerklichen Bereich, indem er Möbel, Rahmen für Fenster, sowie Gemälde, Bildhauerarbeiten und ähnliches anfertigt. Ebenso spielt es ihm zu, dass er für eine praktische Abschlussarbeit seiner Ausbildung, einen gerahmten Spiegel, einen Geldpreis gewonnen hat. Anlässlich der Ausstellung, auf welcher auch sein Werk gezeigt wird, findet man erste Berührungspunkte der unterschiedlichen Handlungsstränge dadurch, dass sich Teddy Brex und Francine Hill zum ersten Mal begegnen, jedoch sich nicht ansprechen.

Trotzdem bleibt diese Begegnung für Beide nicht folgenlos, da Teddy meint in Francine den von ihm gesuchten Menschen, reiner, makelloser Schönheit entdeckt zu haben.
Zunächst wendet sich die Erzählung aber den bereits eingeführten, allerdings nicht näher charakterisierten Harriet Oxenholme und MarcSyre zu.

Nachdem Erstere vom Letzteren im Streit aus der gemeinsamen Wohnung geworfen wurde, lässt sich Harriet ziemlich treiben. So begegnet sie bald Franklin Merton, der für sie zu einer Art Sugardaddy (und später zum Ehemann) wird und für sie sogar das Haus „Orcadia Place“, welches den Hintergrund des nunmehr berühmten Gemäldes von ihr bildet, kauft. Neben ihrem neuen Jetset-Lifestyle, was ihr nicht ausreichend erscheint, rekrutiert sie sich abwechselnde Liebhaber aus den Anzeigen für handwerkliche Dienstleistungen in der Lokalpresse. Letztendlich führt ein solcher vorgeblicher Auftrag auch Teddy Brex in Harriets Leben und ihr Haus, wodurch der rote Faden der Geschichte wiederum allmählich an Stärke gewinnt.
Harriet ist von ihm sehr angetan und versucht ihn zu verführen, doch Teddy ignoriert dies. Stattdessen versucht er, (s)einen ganz persönlichen Traum einer gemeinsamen Existenz mit Francine zu realisieren.

Gleiche sieht in Teddy fortwährend eine Rettung vor der zwanghaften Kontrolle ihrer Stiefmutter Julia, weshalb Francine mit einer nach außen nur sichtbaren Resignation, die sich im inneren aber gegenteilig verhält, versucht dem familiären Käfig zu entfliehen. Julia bleibt dies nicht unbemerkt und verfällt ihrem ebenso individuellen Wahn. Ganz zum Leidwesen eines Mannes, der noch Monatelang später ihr ausspioniertes Objekt sein wird.

Die langsam aufgebaute und gelegentlich, insbesondere in Momenten zwischen Francine und Teddy, beleuchtete Spannung streckte sich schließlich über einen längeren Zeitraum hin.
Zunächst stolpert Teddy emotionslos in eine im Nachhinein von ihm kaltblütig ausgenutzte Gelegenheit hinein. Durch die zufällige Abwesenheit von Franklin Merton, der ihm auch die gesamte Zeit über unbekannt bleiben wird, wird seine Tötung und das Einmauern von Harriet Oxenholme, keinerlei Beachtung finden. Ein Mord, welcher es Teddy ermöglicht, „Orcadia Place“ mehr oder weniger in Besitz zu nehmen und umzubauen. Derweil entdeckt auch Francine nach und nach obsessive Züge an Teddy, die sie an ihm Zweifeln lassen, besonders als er die Geschichte vom Mord an ihrer Mutter, sowie die Hintergründe ihrer Stiefmutter Julia erfährt und nicht nur die klassischen Eigenschaften eines Soziopathen beschrieben werden, sondern sich die Situation zwischen den Beiden dramaturgisch ebenso sehr zuspitzt.

Dennoch lassen die zwei Hauptfiguren zunächst nicht voneinander ab, so dass es zum dritten durch Teddy ausgeführten Mord kommen kann, bei dem er zwar tötet, aber wie schon zuvor seine Opfer nie direkt anfasst: Julia Hill wird durch ihn mittels eines Kissen erstickt, weil er seine Francine befreien wollte.
All diese Taten und Wünsche sollen aber innerhalb des Ringes des banalen Nichts für immer eingeschlossen bleiben, denn im Finale kommt der Zufall oder Teddys (Geburts-)Schicksal wieder auf ihn zurück und auch sein Werdegang wird mit einer für den Leser offen bleibenden Wendung besiegelt. Die anderen Geschichtsfäden werden ebenfalls in der Auflösung eingeflochten, so dass am Ende nur der Brillantring übrig bleibt, welcher mit seinem Vergessenwerden in einem Waschraum Und dieser schließt mit seinem erneuten Vergessenwerden in einem Waschraum das Buch endgültig abschließt.

„A sight for sore eyes“, so der Originaltitel, ist ob der facettenreichen Schicksale vermutlich der richtige Ausdruck, trotzdem sollte man sich davon nicht abschrecken lassen, weil jeder Leser für sich ganz individuell wichtige und hier nicht einmal erwähnte Facetten entdecken und genießen können wird.

Zudem kann bis zu einem gewissen Punkt, selbst die negativen Taten Teddys, sei es aufgrund seiner Lebensumstände oder Ähnlichem, nachvollziehen, weshalb der Autorin in diesem´Buch sowohl die Darstellung des gesellschaftlichen, moralischen Spiegels, als auch die ‘Authentizität’ der Charaktere geglückt ist. Der flüssige Schreibstil und die ironisch anmutenden, einzelnen Szenen, tragen ihr Übriges zu dem positiven Eindruck bei – eine klare Leseempfehlung!

Quotes:

  •  (Zu Teddys Geburt) »Das Baby, ein achteinhalb Pfund schwerer Junge, wurde um zehn Uhr abends geboren. Entgegen Mrs. Tawtons Prophezeiungen (Teddys Großmutter) war mit ihm alles in Ordnung. Jedenfalls das, was sie gemeint hatte. Die Dinge, die bei ihm nicht stimmten, reagierten damals nicht auf Tests und tun es größtenteils auch heute noch nicht. Jedenfalls kommt es darauf an, welcher Schule man angehört: Natur und Veranlagung oder Umgebung und Konditionierung.«

Wertung: 5/7 Schreibfedern
Zurück zur Übersicht
facebooktwittergoogle_pluslinkedinmail

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>